Richard Paul Lohse:
Kunst im technologischen Raum

Es gibt keine Definition der Ästhetik ohne Definition ihrer gesellschaftlichen Basis.

Einem Zeitalter, in dem die Technologie begonnen hat, den bis anhin verschlossenen und geschichtslosen Raum des Kosmos zu öffnen, das Erkenntnisvermögen auf eine noch nie dagewesene Weise zu erweitern, steht heute in der Kunst und in der Architektur ein Irrationalismus und Individualismus gegenüber, der den Anspruch erhebt, Gegensatz und zugleich Ausdruck dieser Zeit zu sein. Die Anmassung, womit dieser Anspruch durch die Apologeten des Irrationalismus vorgetragen wird, bedarf einer Entgegnung. Vor allem gilt es aufzuzeigen, dass der Irrationalismus sich in einer Position befindet, die gegenüber der Tatsache des globalen Instrumentariums der technologischen Struktur dieser Epoche von Grund auf schizophren ist. Der Irrationalismus behauptet, durch seine antirationale Thematik den notwendigen Gegensatz zur Zivilisation darzustellen. Ein solcher Gegensatz könnte sich nur als dialektisches Prinzip innerhalb der gleichen Begriffs- und Denkkategorie zu Recht behaupten, was keineswegs der Fall ist – vielmehr ist der Irrationalismus in der heutigen Kunstproduktion eine negative Reaktion auf die Denk- und Erkenntnisprozesse in der Kunst und in der Architektur, analog der deutschen Romantik des 19.Jahrhunderts, die in ihren Ergebnissen nicht mehr war als eine reaktionäre Bewegung gegen die Erkenntnisse der Enzyklopädisten und die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution von 1792 in Frankreich. Der Bürger will heute vergessen, dass er gesellschaftlich ein Produkt seiner Revolutionen ist, die diese Zeitstrecken schufen und eine ihn unterdrückende Ordnung und deren Ästhetik zertrümmerten. Nicht die klassizistische Schönheit des Crescent von Nash, die Hallenkonstruktionen des Frühkapitalismus von Paxton prägten die Zeit; nicht die Träume von Redon – Monet, der die Materie verwandelte und in Licht auflöste, die Ingenieure der Hallen, die Impressionisten waren es, welche die Substanz der Epoche realisierten.

Das Zeitalter, in dem wir leben, wird als das technologische bezeichnet. Ich meine aber, dass diese Bezeichnung nur unvollkommen ist, vielmehr ist in dieser Epoche ein neues Bild der Welt entstanden. Damit identisch sind ein für diese Zeit charakteristisches Vokabular und ein Instrumentarium von Methoden, Systemen, Verhaltensweisen, ein Arsenal von Ausdrucksformen, die das Leben der Menschen bereits für eine Epoche geprägt haben und weiter prägen werden. Eine Realität mit unverwechselbaren Mitteln, mit einem neuen Raum-Zeit-Bewusstsein und nur in dieser Epoche möglich.

Jedem kulturellen Ausdruck entspricht eine gesellschaftliche Basis, jeder Ästhetik ein Weltbild. In keiner anderen Kunstform finden die Mittel und Methoden dieser globalen Strategie ihren legitimen Ausdruck als in der konstruktiven, logischen oder systematischen Kunstform, die das sublimierte und kritische Echo auf die Strukturen der Zivilisation ist. Keine andere Kunstform als die konstruktive hat innerhalb der visuellen Gestaltung einen so grossen Anteil an der für unsere Zeit charakteristischen Erscheinung: dem strukturellen Denken. Ohne dieses und ohne die grundsätzliche theoretische und praktische Vorleistung der konstruktiven Kunst wäre die Ausweitung zu anderen Ausdrucksformen innerhalb der systematischen Gestaltung nicht möglich gewesen.

Die Frage, inwieweit Kunst autonom sein könne, wäre dahingehend zu beantworten, dass jede ihrer Ausdrucksformen in ihrer Zeit determiniert ist und als Idee und Ausdruck in dialektischer Beziehung zur Epoche steht, selbst dann, wenn die Gestaltform der Zeit vorauseilt und in einem scheinbaren Gegensatz zu den Forderungen des Tages, zum allgemein gültigen ästhetischen Verhalten ist. Sich zum Instrumentarium der Zeit, ihren Formen und Auswirkungen zu bekennen verlangt einen langen Atem und eine klare Haltung im Bewusstsein, dass die Strukturen der konstruktiven Kunst nur in dieser und keiner anderen Epoche möglich sind, auf eine selbstverständliche Weise mit ihr identisch.

Obwohl Parallelerscheinungen der Idee einer Epoche sich nicht stets zu gleicher Zeit ereignen, lassen sich Tendenzen und Wirkungen dieser kulturideologischen Grundwelle auch bei grossen Zeitabständen erkennen, Ereignissen, die die Richtung bestimmen, oftmals über eine längere Wegstrecke, wie ein unterirdischer Strom überdeckt, um später in verschiedenen Formulierungen das Grundprinzip der Epoche erkennbar werden zu lassen. Vor allem in der Ähnlichkeit der Methoden, der Masswerte und Grundmuster, im Ablauf von zeitlichen Arbeitsvorgängen wird die neue Signatur vom Heute erkennbar. Jede Methode ist in der Zeit, in der sie entsteht, determiniert und drückt sich durch eine originale Struktur aus: Summe aus Sein, Bewusstsein und Aktion.

Die technologische Realität ist ein nicht zu ignorierendes Faktum. Sie ist weder auswechselbar noch wegzudiskutieren. Sie abzuschaffen wäre weder für uns noch für die Gegner wünschbar, denn das würde die Negierung der Entdeckungen, die Beendigung der Entwicklung und damit auch der Verwirklichung einer verbesserten Gesellschaftsordnung bedeuten. Wenn wir die Mythologien und den Irrationalismus in ihre entsprechende Lebenswirklichkeit rückkoppeln könnten, käme das der Wiederherstellung eines magischen, vormythologischen Zustands gleich. Zu Recht darf der Vorwurf des Anachronismus und der Unwahrhaftigkeit gegen die antirationale Philosophie erhoben werden.

Einleuchtend ist, dass der Rückzug auf den ökonomischen und gesellschaftlichen Status der Mythologisten ein Dasein mit Menschen ohne dimensionales Bewusstsein, zurück zur Periode der Jäger und der Höhle, zurück zu einer gesellschaftlichen Sklavenordnung bedeuten würde. Die Vorstellung ist absurd, dennoch logisch, wenn man die Beweisführungen über die Zeitrichtigkeit der heutigen neoarchaischen Kunstäusserungen in den ihnen gemässen ökonomischen und gesellschaftlichen Stand bringt. Das Ideal eines Kunstmachers ohne Zeitbewusstsein ist das archaische Ideal der Raum-Zeitlosigkeit.

Irrationalität besitzt heute keine Möglichkeit echter Realisation mehr, so wenig Mondrian in der archaischen Epoche denkbar ist. Was wir sehen, sind rudimentäre Reflexionen irrationaler Vorstellungen in der technologischen Gegenwart, die uns im Negativen wie im Positiven geprägt haben.

Eine Verbesserung der Nutzanwendung des heutigen Standes der Technologie ist keine Frage, die die Existenz, das Sein oder Nichtsein der Zivilisation berührt, sondern eine gesellschaftspolitische Frage. Die richtige Beantwortung kann nur aus der Konfrontation der Inhaber der Technik mit der Gesellschaft kommen, nicht aus dem Verbot der Kernspaltung.

Der Antirationalismus will vergessen machen, dass er täglich mit der Ratio und durch die Ratio lebt. Die Bedingungen, die die Zivilisation herstellt, sind für die Irrationalisten ebenso lebensnotwendig wie für uns. Von einem bestimmten Datum des Lebens an wird der Mensch – persönlich wie global – Glied einer bestimmten Gesellschaftsform, die bestimmt ist durch die Entwicklung der entsprechenden Prozesse. Das Leben in der Industriegesellschaft, die Benützung der technischen Prothesen, ist für die Antirationalisten eine Selbstverständlichkeit. Die Tragik dieser Haltung besteht darin, dass sie diese durch die Kunst bekämpfen, aber mit ihr leben, leben müssen und leben wollen. Zur richtigen Zeit erscheint der Spontaneismus als Deus ex machina, um wieder den Traum des freien Individuums zu zelebrieren. Mit dieser Doppelfunktion in ihrem Widerspruch zwischen Protestvorstellung und Zeitbedingtheit entstehen die Homunculi archaischer Kunst, deren Propheten nicht bereit sind, einzusehen, dass zwischen Zivilisation und pseudomagischer Ausdrucksform einerseits und dem Instrumentarium dieser Epoche andererseits ein unüberbrückbarer Hiatus besteht.

Man ist versucht zu fragen, ob der Irrationalismus, dessen Auftreten in verschiedenen Erscheinungen (naturalistischen, expressiven, afrikanischen) erfolgt, die List einer Gesellschaftsordnung ist, die den Denkprozessen aus verständlichen Gründen misstraut. Sicher aber hängt die Reinthronisierung des sogenannten reinen Künstlertyps à la Makart als sogenannte dritte Kraft damit zusammen. Es ist selbstverständlich, dass diesen ästhetischen Strömungen eine politische Haltung entspricht, deren Richtung politisch und kulturell rückwärts zielt, was im Maskenball von "la presenza del passato" mit aller Deutlichkeit offenbar wird.

Analog dem Widerspruch zwischen dem Arsenal der Zivilisation und den antirationalen Formen in der Kunst ist der Widerspruch zwischen der Kapazität von Erfindung und Verbrauchermöglichkeit oder – anders gesagt – die gesellschaftliche Kluft zwischen den Inhabern der Macht und der Masse. Aber nicht nur hier besteht ein unlösbarer Konflikt zwischen Sein und Bewusstsein, sondern auch zwischen den progressiven Kräften des politischen Lebens und der kritisch-rationalen Konzeption der konstruktiven Kunst. Die Meinung, dass die sichtbare Realität das einzig mögliche Thema der Kunst sei, ist angesichts der Wirkungsweise des Instrumentariums dieser Epoche ein Anachronismus. Diese Feststellungen wären unnötig, wenn es die progressiven politischen Kräfte nicht versäumt hätten, sich mit diesen fundamentalen Problemen der Gegenwart zu befassen, deren Ausklammerung mit eine Folge ihrer Isolierung ist. Es scheint, als ob die Realität die Theorie über die gesellschaftliche Realität einholt und überholt hätte.

Es besteht nicht allein eine Kluft zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, zwischen Mythologisten und Rationalisten, sie besteht auch zwischen der sogenannten Elite der progressiven politischen Kräfte und denjenigen, die die konstruktive Kunst verteidigen. Auch jene trifft der Vorwurf der Ignoranz und der Verschleierung der Wahrheit gegenüber den neuen Tatsachen, der Gleichgültigkeit gegenüber den Fakten der Komplexität von Ökonomie und Kultur.

Es wäre Aufgabe der fortschrittlichen Bewegungen gewesen, sich dieser Probleme bewusst zu werden und sie nicht mit dem oberflächlichen Argument, konstruktive Kunst sei dem Volk fremd, abzulehnen – vielmehr wäre es notwendig, die Identität der Ausdrucksformen der Zivilisation mit dem essentiellen und kritischen Formvokabular der konstruktiven Kunst aufzuzeigen und eine Basis zu erarbeiten, mit der die konstruktive Kunst nicht als Formalismus verleumdet wird, sondern als eine beispielgebende, produktive Gestaltungsform in dieser Epoche und für diese Epoche verstanden wird. In welcher anderen Ausdrucksform der Kunst wäre das entstanden, was aus der Dynamik der Gegenwart kommt? Kongruenz der Bildaktion, Unmittelbarkeit und Thematik, ein neuer Zeitbegriff, das Bild als Struktur, eine neue Dimension der Mittel – Parallelen zu den Formen und Wirkungen der Zeit.

Die systematische Gestaltungsform ist eine Parallele zu den Strukturen des Instrumentariums, zu unserer heutigen Lebenswirklichkeit, der Zivilisation – obwohl identisch, muss sie diese gleichzeitig in ihrer gesellschaftlichen Realität in Frage stellen. Durch die Verwendung objektivierter Mittel, die Durchschaubarkeit ihrer Methoden, die Möglichkeit der Vorausberechenbarkeit, die Bildung unlimitiert-gesetzlicher Strukturen ist sie in ihren Denk- und Arbeitsmethoden modellhaft auf die Veränderung der Gesellschaft und der Umwelt gerichtet.

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Vortrag anlässlich der öffentlichen Feier zum 80. Geburtstag, die am 10. September 1982 im Kunsthaus Zürich stattfand.

Erstmals publiziert im "Tages-Anzeiger", Zürich, 2. Oktober 1982.

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